NIS2: Der Leitfaden für die neuen Sektoren in Deutschland
NIS2: Der Leitfaden für die neuen Sektoren in Deutschland
Niklas Hanitsch
Volljurist und Compliance-Experte
November 19, 2025
4 Minuten
Als Jurist mit langjähriger Erfahrung als Anwalt für Datenschutz und IT-Recht kennt Niklas die Antwort auf so gut wie jede Frage im Bereich der digitalen Compliance. Er war in der Vergangenheit unter anderem für Taylor Wessing und Amazon tätig. Als Gründer und Geschäftsführer von SECJUR, lässt Niklas sein Wissen vor allem in die Produktentwicklung unserer Compliance-Automatisierungsplattform einfließen.
Key Takeaways
NIS2 erweitert den Geltungsbereich deutlich und verpflichtet viele zuvor unregulierte Branchen zu höherer Cybersicherheit.
Unternehmen müssen ihre IT- und OT-Risiken systematisch bewerten und wirksame Schutzmaßnahmen umsetzen.
Sicherheitsvorfälle müssen innerhalb von 24 Stunden gemeldet werden, was klare Prozesse und Verantwortlichkeiten erfordert.
Die Geschäftsführung trägt die direkte Verantwortung für die Umsetzung und haftet bei Versäumnissen persönlich.
Stellen Sie sich vor, Sie leiten ein mittelständisches Unternehmen in der Abfallwirtschaft. Ihr Geschäft läuft gut, die Digitalisierung Ihrer Logistik- und Planungsprozesse hat die Effizienz enorm gesteigert. Plötzlich hören Sie von einer EU-Richtlinie namens „NIS2“ und erfahren, dass Ihr Unternehmen als „wichtige Einrichtung“ eingestuft werden könnte. Plötzlich geht es um Cybersicherheit, Meldepflichten und die persönliche Haftung der Geschäftsführung.
Wenn Ihnen dieses Szenario bekannt vorkommt, sind Sie nicht allein. Mit der Umsetzung der NIS2-Richtlinie in deutsches Recht werden schätzungsweise 30.000 bis 40.000 Unternehmen in Deutschland erstmals oder deutlich stärker reguliert. Viele davon kommen aus Branchen, die bisher nicht im Fokus der Cybersicherheit standen.
Dieser Artikel ist Ihr praktischer Leitfaden. Wir übersetzen das Juristendeutsch in verständliche Sprache und zeigen Ihnen anhand konkreter Beispiele, was NIS2 für die „neuen“ Sektoren wie Digitalanbieter, Abfallwirtschaft oder das produzierende Gewerbe wirklich bedeutet.
NIS2 in 5 Minuten – Was sich wirklich ändert
Vielleicht haben Sie schon von KRITIS gehört, den „Kritischen Infrastrukturen“ wie Energie- oder Wasserversorgern. NIS2 erweitert diesen Kreis drastisch. Die Grundidee ist einfach: Jedes Unternehmen, dessen Ausfall spürbare Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft haben könnte, muss ein Mindestmaß an Cyber-Resilienz nachweisen.
Die Richtlinie unterscheidet dabei zwischen „wesentlichen“ (essential) und „wichtigen“ (important) Einrichtungen. Die genaue Einstufung hängt von Ihrer Branche und Unternehmensgröße ab. Aber die Kernpflichten sind für alle ähnlich und konzentrieren sich auf drei Bereiche:
Risikomanagement: Sie müssen die Risiken für Ihre IT- und OT-Systeme (Operational Technology, z.B. Maschinensteuerungen) kennen und geeignete Schutzmaßnahmen ergreifen.
Meldepflichten: Bei einem erheblichen Sicherheitsvorfall müssen Sie diesen innerhalb von 24 Stunden den Behörden (in Deutschland dem BSI) melden.
Verantwortung der Leitungsebene: Die Geschäftsführung ist direkt für die Umsetzung der Cybersicherheitsmaßnahmen verantwortlich und haftet bei Versäumnissen persönlich.
Es geht also nicht mehr nur darum, ob Sie sich schützen wollen, sondern darum, dass Sie es müssen. Die Frage, wer von der NIS2 Richtlinie betroffen ist, wird damit für tausende Unternehmen zur zentralen strategischen Frage.
Der Anwendungsbereich in der Praxis – Ein Leitfaden für neue Sektoren
Die abstrakten Pflichten werden erst dann greifbar, wenn man sie auf den eigenen Sektor anwendet. Schauen wir uns drei der neuen Bereiche genauer an.
Für Digitalanbieter ist Cybersicherheit Kerngeschäft. Neu ist jedoch die regulatorische Verbindlichkeit und der Fokus auf die gesamte Dienstleistungskette.
Beispiel: Ein mittelständischer SaaS-Anbieter für Buchhaltungssoftware mit 70 Mitarbeitern.
Konkrete Herausforderungen und Pflichten:
Lieferkettensicherheit: Es reicht nicht, nur die eigene Plattform zu sichern. Sie müssen auch die Sicherheit der von Ihnen genutzten Dienste (z.B. Cloud-Hoster wie AWS oder Azure) und sogar der integrierten Open-Source-Bibliotheken bewerten. Die Sicherheit Ihrer Lieferkette rückt in den Mittelpunkt.
Business Continuity: Was passiert, wenn Ihre Plattform ausfällt? Ein Angreifer könnte nicht nur Sie, sondern hunderte Ihrer Kunden lahmlegen. Ein robustes Business Continuity Management im Rahmen von NIS2 ist unerlässlich, um die Dienstleistung schnell wiederherstellen zu können.
Transparenz gegenüber Kunden: Sie müssen Ihre Kunden proaktiv über Ihre Sicherheitsmaßnahmen und im Falle eines Vorfalls auch über die Risiken informieren.
Abfallwirtschaft: Wenn die Müllabfuhr digital wird
Dieser Sektor ist ein perfektes Beispiel für eine Branche, die durch die Digitalisierung plötzlich systemrelevant im Sinne der Cybersicherheit wird.
Beispiel: Ein kommunaler Entsorgungsbetrieb, der für die Müllabfuhr und den Betrieb einer Sortieranlage in einer mittelgroßen Stadt verantwortlich ist.
Konkrete Herausforderungen und Pflichten:
Schutz der Operational Technology (OT): Moderne Sortieranlagen werden durch komplexe IT-Systeme gesteuert. Ein Angriff auf diese OT könnte den gesamten Betrieb lahmlegen und zu Umwelt- und Hygieneproblemen führen.
Sicherung der Logistik: Die Tourenplanung der Müllfahrzeuge erfolgt digital. Ein Ausfall oder eine Manipulation dieser Systeme könnte die öffentliche Ordnung empfindlich stören.
Risikomanagement für die Flotte: Vernetzte Fahrzeuge sind ein potenzielles Einfallstor. Die Sicherung der Bordcomputer und der Kommunikationskanäle zur Zentrale ist Teil der neuen Pflichten.
Produzierendes Gewerbe: Industrie 4.0 trifft auf Cybersicherheit
Bestimmte Bereiche des produzierenden Gewerbes, wie der Maschinen- und Fahrzeugbau oder die Herstellung von Medizintechnik, fallen ebenfalls unter NIS2. Hier trifft die vernetzte Fabrik (Industrie 4.0) auf neue regulatorische Anforderungen.
Beispiel: Ein Automobilzulieferer mit 300 Mitarbeitern, der kritische elektronische Bauteile herstellt.
Konkrete Herausforderungen und Pflichten:
Schutz von Produktionsanlagen (ICS): Die industriellen Steuerungssysteme (Industrial Control Systems) sind das Herz der Produktion. Sie müssen vor Manipulation und Ausfällen geschützt werden, was oft andere Methoden erfordert als die klassische Büro-IT.
Sicherung von geistigem Eigentum: Produktionsdaten und Baupläne sind wertvolle Güter. Ein angemessener Schutz vor Datendiebstahl ist Teil der konkreten NIS2 Anforderungen.
IoT-Sicherheit: Vernetzte Maschinen und Sensoren (Internet of Things) erhöhen die Effizienz, schaffen aber auch unzählige neue Angriffspunkte. Jedes dieser Geräte muss in die Sicherheitsstrategie einbezogen werden.
Ihre 10-Punkte-Checkliste zur NIS2-Umsetzung
Unabhängig von Ihrem Sektor gibt es grundlegende Maßnahmen, die jedes betroffene Unternehmen ergreifen muss. Diese Checkliste dient als erster Orientierungspunkt.
Der erste Schritt ist der Wichtigste
Die NIS2-Richtlinie mag auf den ersten Blick wie eine weitere bürokratische Hürde wirken. Doch im Kern ist sie eine Chance. Sie zwingt Unternehmen, die eigene digitale Widerstandsfähigkeit auf den Prüfstand zu stellen und sich für die Zukunft zu wappnen.
Für die neu betroffenen Sektoren bedeutet das einen Kulturwandel. Cybersicherheit ist kein reines IT-Thema mehr, sondern ein integraler Bestandteil der Unternehmensstrategie, der von der Chefetage bis in die Produktionshalle gelebt werden muss.
Der beste Weg, um zu beginnen, ist, Klarheit zu schaffen. Identifizieren Sie, ob und wie Ihr Unternehmen betroffen ist. Analysieren Sie Ihre aktuellen Prozesse und Systeme und erstellen Sie eine Roadmap für die Umsetzung. Warten Sie nicht, bis das Gesetz in Kraft tritt – handeln Sie jetzt, um Ihre Organisation sicher und konform aufzustellen.
Häufig gestellte Fragen (FAQ) zu NIS2 für neue Sektoren
1. Wir sind nach ISO 27001 zertifiziert. Reicht das nicht aus?
Eine ISO 27001-Zertifizierung ist eine hervorragende Grundlage, aber sie ist kein Freifahrtschein. NIS2 stellt spezifische Anforderungen, z.B. an die 24-Stunden-Meldepflicht und die Sicherheit der Lieferkette, die über den Standard-Scope von ISO 27001 hinausgehen können. Betrachten Sie Ihre Zertifizierung als einen starken Startpunkt, aber führen Sie unbedingt eine Gap-Analyse durch, um zu sehen, wo Sie nachbessern müssen.
2. Ich habe nur 60 Mitarbeiter. Gilt das wirklich für mich?
Ja, sehr wahrscheinlich. Die Schwelle für „wichtige Einrichtungen“ liegt in der Regel bei 50 Mitarbeitern und 10 Millionen Euro Jahresumsatz. Wenn Ihr Unternehmen in einem der genannten Sektoren tätig ist und diese Größe erreicht, sind Sie im Anwendungsbereich. Es gibt nur wenige Ausnahmen.
3. Das klingt alles sehr technisch. Muss ich jetzt zum Cybersicherheits-Experten werden?
Nein. Die Geschäftsführung muss die Verantwortung übernehmen und die strategischen Entscheidungen treffen. Für die Umsetzung ist es jedoch entscheidend, entweder interne Expertise aufzubauen oder sich externe Unterstützung zu holen. Wichtig ist, dass Sie ein systematisches Risikomanagement nach ISO 27001 oder einem ähnlichen Standard etablieren, um fundierte Entscheidungen treffen zu können.
4. Was passiert, wenn wir die Anforderungen nicht erfüllen?
Die Strafen können empfindlich sein. Für wichtige Einrichtungen sind Bußgelder von bis zu 7 Millionen Euro oder 1,4 % des weltweiten Jahresumsatzes vorgesehen. Hinzu kommt die persönliche Haftung der Geschäftsführung. Der proaktive Ansatz ist hier eindeutig der bessere und kostengünstigere Weg.
Als Jurist mit langjähriger Erfahrung als Anwalt für Datenschutz und IT-Recht kennt Niklas die Antwort auf so gut wie jede Frage im Bereich der digitalen Compliance. Er war in der Vergangenheit unter anderem für Taylor Wessing und Amazon tätig. Als Gründer und Geschäftsführer von SECJUR, lässt Niklas sein Wissen vor allem in die Produktentwicklung unserer Compliance-Automatisierungsplattform einfließen.
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